Zum Umgang mit Verdeckten Ermittler_innen in unseren Zusammenhängen

Nachdem im November 2014 die verdeckte Ermittlerin (VE) Iris Plate alias „Iris Schneider“ enttarnt wurde, flog im August 2015 mit der Enttarnung von Maria Böhmichen alias „Maria Block“ eine weitere VE auf. Derzeit läuft von staatlicher Seite die „Aufarbeitung“ der Einsätze und es wird verhandelt, inwiefern sich die Ermittlerinnen mit ihrem Vorgehen an geltendes Recht gehalten haben. Natürlich verbessern sie in diesem Zuge ihre Einsätze, sie analysieren was als „auffällig“ gesehen wird und richten sich danach.

Für die, die näher mit „Iris Schneider“ und/oder „Maria Block“ zu tun hatten, war die Enttarnung oftmals auch ein persönlicher Schock und sie führte zu Verunsicherung in der Szene. Gut ist, dass sich daraus wieder eine Diskussion entwickelt hat wie wir unsere Strukturen schützen können.

Um es gleich vorweg zu nehmen: Wir gehen davon aus, dass in Hamburg durchgehend vier bis fünf Verdeckte Ermittler_innen in unseren Strukturen eingesetzt sind. Die Wahrschein­lichkeit, dass jede_r von euch mindestens eine_n von ihnen kennt, ist daher sehr hoch. So ist aufgrund von Enttarnungen klar, dass parallel zu Iris Plate der Beamte Kristian Krumbeck 2003/2004 und ein Beamter unter dem Pseudonym „Yusuf Kaya“ 2003-2008 im Einsatz waren.

Wenn diese Gegebenheit ein Grund ist, Vorsicht walten zu lassen, ist das aus unserer Sicht gut. Allerdings wäre es fatal, wenn das Ergebnis dieser Erkenntnis wäre, dass politische Zusammenhänge, die jetzt sehr offen sind, das in Zukunft nicht mehr wären. Ziele/Aufgaben/Zweck der Überwachung sind nicht nur das Sammeln von Informationen, sondern je nachdem auch Aufstachlung zu „entschlossenerem“ Handeln, Einschüchterung, das Sähen von Misstrauen oder das Zersplittern von Bewegungen. Sich nicht einschüchtern zu lassen und weiterhin solidarisch mit Anderen zu kämpfen und zu leben ist also wichtig, wenn ihre Rechnung nicht aufgehen soll.

Wir glauben, dass offene Strukturen wesentlich sind, wenn es um sichtbare Gegenentwürfe zum gesellschaftlichen Mainstream und politische Umbrüche geht. Ja, dass es ohne diese gar nicht funktionieren kann. Natürlich ist die Vorstellung, dass eine Person, die ich für eine_n Freund_in, eine_n Mitstreiter_in halte, persönliche/politische Informationen über mich an die Repressions­behörden weitergibt, unangenehm und kann sogar beängstigend sein. Allerdings ist es wichtig im Auge zu behalten, dass die Schergen auch noch andere Methoden zur Überwachung haben, die sie ebenfalls ausgiebig nutzen. Seid euch bewusst, dass mit großer Wahrscheinlichkeit Informationen über euch gesammelt werden, wenn ihr politisch aktiv seid.

Was ihr tun könnt, ist einerseits es ihnen so schwer wie möglich zu machen, und andererseits mit Informationen über (eventuell) strafbare Aktionen extrem vorsichtig zu sein. Überlegt euch immer genau, was ihr wem,wo, wann, wie und warum erzählt und wenn die strafbaren Aktionen in der Vergangenheit liegen, sollte sowieso nicht darüber mit Unbeteiligten gesprochen werden, denn dies geht nur die Beteiligten etwas an. Seid euch bewusst, wo ihr euch mit wem bewegt: Bei der Planung einer Küfa z.B. ist es nicht so wichtig sicher zu wissen, dass die Leute mit denen mensch das macht keine VEs sind. Allerdings ist es dann gut, den anderen beim Kochen nicht von der nächsten kriminalisierbaren Aktion zu erzählen oder sich selbst als besonders cool darzustellen und sich mit wilden Statements zu profilieren. Das Ganze wird auch nicht sicherer, wenn ihr schon dreimal zusammen gekocht habt. Krimi­nalisierbare Aktionen sollten nicht in offenen Räumen besprochen werden und sollten nicht nur aufgrund eines „guten Gefühls“ miteinander gemacht werden, sondern aufgrund von sich kennen und eines guten Gefühls.

Wenn es darum geht, Leute für eine klandestine und kriminalisierbare Aktion zu finden, reicht es auch nicht aus, gesamte Gruppen, die mensch für vertrauenswürdig hält, anzufragen. Das ginge nur wenn ihr alle Personen aus der Gruppe kennen und für vertrauenswürdig halten würdet. Es müssen also vertrauenswürdige Einzelpersonen gefragt werden die dann ihrerseits auch weiter fragen können.

Um auszuschließen, dass eine Person ein_e Verdeckte_r Ermittler_in ist, ist es nötig, über die Person wirklich zu wissen, ob ihre Vergangen­heit/Identität stimmt, oder mindestens eine, besser mehrere Personen zu kennen, die sich für die Person verbürgen (Das heißt, zu bestätigen, dass sie wissen, dass die Person wirklich die Person ist, die sie behauptet zu sein).
Was aber bedeutet, eine_n wirklich zu kennen? Nach längerer Diskussion haben wir einige Orientierungsfragen gefunden, nach denen mensch sich richten kann. Dabei betonen wir gleich zu Beginn: Das sind Ideen und KEINE Liste die einfach „abgearbeitet“ werden kann

 

  • Kenne ich oder andere mir bekannte Personen die Eltern und/oder Geschwister der Person? Wenn ja, wie gut? Wie oft habe/n ich oder andere mir bekannte Personen diese getroffen?
  • Kenne ich leibliche Kinder der Person?
  • War ich oder eine andere mir bekannte Person mit der Person auf der gleichen Schule/Berufsschule?
  • Kenne/n ich oder eine andere mir bekannte Person alte Bekannte/ Schul-/ Freund_innen, Lehrer_innen, Nach­bar_innen etc. der Person ?
  • Kenne ich oder kennt eine andere mir bekannte Person die Person seit min­destens 10 Jahren?
  • Falls die Person lohnarbeitet: War ich schon mal auf der Arbeitsstelle? Kenne ich Arbeitskolleg_innen? Hab ich ver­schiedene Unterlagen (Arbeitsvertrag, Lohnabrechnungen etc.) gesehen?
    • Mit der Person auf dem Arbeitsamt/im Jobcenter gewesen zu sein oder zusammen zu studieren ist unter Umständen nicht aussagekräftig.

Eine Frage mit „ja“ beantworten zu können ist schon mal gut, aber keine Garantie.

Dass hier die „richtige“ („Bluts“)Familie als Überprüfungsmerkmal genannt wird bezieht sich darauf, dass VEs in Deutschland aus Sicherheitsgründen angewiesen werden ihre Familie aus der Tarnidentität raus zuhalten. Deshalb kann davon ausgegangen werden, dass, wenn ihr die Eltern/ein Elternteil und/oder die Geschwister der Person kennt, dass die Person kein_e VE ist. Allerdings ist es für die Ermittler_innen natürlich durchaus möglich, eine_n Bekannte_n oder Kolleg_in, als Elternteil oder Geschwister vorzustellen. Daher kommt es also darauf an, wie oft mensch die Familienmitglieder gesehen hat/wie gut mensch sie kennt. Gleiches gilt für Kinder. Da es allerdings immer wieder vorkommt, dass VEs Beziehungen mit Aktivist_innen eingehen (auch wenn das in Hamburg laut den innerpolizeilichen Anweisungen eigentlich nicht zulässig ist), gilt dieses Argument nur, wenn ihr sicher wisst, dass das Kind nicht eigentlich das Kind des_der Partner_in ist, oder z. B. das Kind des_der Mitbewohner_in.

Wenn ich Leute kenne, die die betreffende Person z. B. aus der Schulzeit kennen, oder z. B. zusammen mit der Person auf die Berufsschule gegangen sind, oder selber mit der Person auf der Schule war und die angegebene Identität (Name etc.) sowie Teile der Lebensgeschichte, wie die betreffende Person sie erzählt hat, bestätigen kann, ist das eine relativ sichere Verifizierung.

Auch gut ist wenn ich oder mir bekannte Menschen die Person schon 10 Jahre oder länger kennen. Die Einsatzzeiten bzw. die Verweildauer in der Szene für VEs können mit Verlängerung in Hamburg nach dem, was wir wissen, zehn Jahre betragen. Danach müsste der_die VE abgezogen werden. Eine Person seit 10 Jahren zu kennen, ist also auch ein gutes Indiz dafür, dass die Identität der betreffenden Person echt ist.

Die Lohnarbeit von VEs ist das verdeckte Ermitteln, also das Rumschnüffeln in unseren Strukturen. Sie haben also weder Zeit noch besteht für sie die Notwendigkeit eines anderen Broterwerbs. Natürlich gehört es aber zu jeder Legende dazu, zu erklären, wovon mensch lebt. Wenn also sichergestellt werden kann, dass die Person wirklich lohnarbeitet, ist es relativ wahrscheinlich, dass die Person kein VE ist. Allerdings bleibt zu bedenken, dass den Repressionsbehörden zur Verifizierung einer Legende extrem viele Möglichkeiten offen stehen. Alle möglichen Papiere können gefälscht sein (Ausweise z.B. sind immer „echte“ falsche – mit diesen können die VEs voll am „Rechtsverkehr“ teilnehmen. Sie können beispielsweise mit der Tarnidentität sämtliche Kauf-,Miet- und Leih-Verträge abschließen wie zb. Konten eröffnen usw.), es kann sich Zugang zu den angeblichen Arbeitsräumen verschafft werden, andere Beamt_innen können Chef_innen oder Arbeitskolleg_innen spielen. Auch wenn wir noch nicht von einer solchen Legende gehört haben ist es möglich, als VE offiziell Hartz 4, Sozialhilfe, Arbeitslosengeld 1 oder Rente zu beziehen. Bisher war das bei keine_r aufgeflogenen VE in der BRD, von der wir wissen, der Fall. Auch ein Studium ist kein Garant für die Echtheit der Identität. Simon Bromma (http://spitzelklage.blogsport.de/), der im De­zember 2010 in Heidelberg enttarnt wurde, war (wie Kirsti Weiss in Hannover 2000) tatsächlich an der Uni eingeschrieben. Auch wenn die Uni Heidelberg nach der Enttarnung Beschwerde dagegen eingelegt hat, dass ein VE dort unter falschem Namen eingeschrieben war. Unter http://www.vgkarlsruhe.de/pb/,Lde/Heidelberg_+Einsatz+eines+Polizeibeamten+als+Verdeckter+Ermittlers+war+rechtswidrig/?LISTPAGE=1220792 findet sich das Urteil zu dem Fall Bromma.

Natürlich sind diese Eckpunkte alle schon allein deshalb nicht hundertprozentig zuverlässig, weil sich die Repressionsbehörden oft genug selbst nicht an ihre eigenen Regeln halten, wie wir wohl alle schon des öfteren feststellen mussten und wie ja auch unter anderem die Fälle Iris Plate und Maria Böhmichen zeigen (offiziell werden VE abgezogen wenn sie Liebesbeziehungen in der Szene führen, offiziell dürfen VE keine Straftaten begehen…). Außerdem können sich deren Regeln auch jederzeit ändern ohne dass wir das notwendigerweise mitkriegen müssen.

Eine_n richtig kennenlernen zu wollen hat nichts mit einem Verdacht zu tun. Positives Interesse an der Lebensrealität und Vergangenheit einer Person, mit der ich gut befreundet bin, mit der ich zusammen wohne, eine Liebesbeziehung habe und/oder politische Arbeit mache hat auch etwas mit Anteilnahme und Wertschätzung zu tun. Und es bietet einen gewissen Schutz vor VEs. Diesen Schutz benötigt mensch natürlich gerade auch was engere Beziehungen mit Menschen betrifft. Nach Monaten oder Jahren herausfinden zu müssen, dass mein_e Mitbewohner_in, mein_e beste_r Freund_in oder meine Liebesbeziehung eigentlich ein_e VE ist, ist ein riesiger Vertrauensbruch und extrem verletzend. Ganz davon abgesehen, dass Menschen die mir so nahe stehen, Zugriff auf Informationen bekommen.

Sich gegenseitig aus seinem Leben und seiner Vergangenheit zu erzählen stärkt dagegen das Vertrauen. Sich richtig kennen zu lernen kann also Beziehungen intensivieren und dazu beitragen, die Vereinzelung zu durchbrechen, die das neoliberalkapitalistische Kacksystem in dem wir leben so mit sich bringt.

Eine gute Freundschaft sollte außerdem auch heißen, im Falle eines Spitzelverdachtes statt mit Abwehr zu reagieren den Verdacht gegen die befreundete Person erst mal ernst zu nehmen und bei der Aufklärung, z.B. durch Wissen, freundschaftliche Nachfrage usw. zu helfen. Das ist sowohl für die verdächtigte Person, als auch für die Gruppe/Struktur, von der der Verdacht kam die beste Unterstützung.

Sich besser kennen zu lernen ist also ein wichtiger Schritt, um unsere Strukturen vor VEs zu schützen: Nur ein_e super Polit-Checker_in zu sein ist nicht der beste Plan. Interesse aneinander ist der beste Schutz.

Infokasten
Verdeckte_r Ermittler_in (VE) mit oder ohne konkretem Ermittlungsauftrag oder Beobachter_in für Lagebeurteilungen (BFL)– Wo sind die Unterschiede?

Verdeckte Ermittler_innen in konkreten Ermittlungsverfahren – mit oder ohne konkrete Zielperson werden durch ein Gericht zeitlich begrenzt eingesetzt. Sie dürfen/sollen personenbezogene Daten erheben, Wohnungen betreten und engere persönliche Beziehungen aufbauen. (STPO § 110) Allerdings haben sie einen konkreten Ermittlungsauftrag. Dieser kann nicht sein, grundsätzliche Informationen über Bewegung zu sammeln.

Präventivpolizeiliche VE dürfen/sollen zur „Gefahrenabwehr“ die Szene insgesamt ausspähen.Sie werden auf Antrag der Polizei durch die Staatsanwaltschaft für jeweils ein Jahr eingesetzt. Dieser Zeitraum kann von der Staatsanwaltschaft mehrfach um ein Jahr verlängert werden. Sie dürfen personenbezogene Daten erheben und grundsätzlich keine Wohnungen betreten, außer im Einzelfall zur Verhinderung einer Enttarnung. (POL DVG § 12)

Bis vor kurzem gab es auch noch BfL. Ihre Aufgabe war es, allgemeine „Lageerkenntnisse“ zu sammeln z. B. über in der Szene geplante Großevents, Demos, Aktionen, etc. BfL dürfen keine personenbezogenen Daten erheben und grundsätzlich keine Wohnungen betreten, außer im Einzelfall zur Verhinderung einer Enttarnung.
Die Innenrevision hat empfohlen, BfL abzuschaffen und sie nötigenfalls durch präventivpolizeiliche VE zu ersetzen. Diese Empfehlung war Teil eines ganzen Katalogs und der ehemalige Innensenator Neumann hat ausgesagt, die Empfehlungen komplett umgesetzt zu haben.
Wenn Aktivist_innen auf merkwürdige Weise „verschwinden“ kann dies auch daran liegen – eine Recherche lohnt hier.