Die Geschichte sozialer Kämpfe, aber auch unsere gegenwärtige Praxis zeigt: Fortschrittliche Bewegungen wurden und werden zum Angriffsziel von politischer Repression. Um unsere Strukturen zu schützen, dürfen wir deshalb den staatlichen Repressionsorganen so wenig Angriffspunkte wie möglich bieten. Das setzt voraus, dem Staat nicht selbst die Informationen über uns und unsere politischen Zusammenhänge zu geben. Konsequente Aussageverweigerung bei Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht ist deshalb ein äußerst effektives Mittel zur Selbstverteidigung linker Strukturen. Sie ist aber darüber hinaus auch ein offensives und starkes politisches Statement.
Was bedeutet Aussageverweigerung?
Die Aussage zu verweigern bedeutet nach unserem Verständnis nicht, passiv den Ausgang des Verfahrens abzuwarten. Niemand will zum Spielball von Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht werden und natürlich wollen wir ihre Deutungshoheit im Gerichtssaal nicht unangefochten lassen. Hierfür ist es wichtig, mit den eigenen Strukturen, Antirepressionsgruppen oder solidarischen Anwält_innen zu diskutieren, um zu verstehen, was in einem Strafverfahren mit uns passiert. Nichts wirkt besser gegen das bedrückende Gefühl, der Situation ausgeliefert zu sein. Nur so können wir unsere Sache selbst in die Hand nehmen und der „Enteignung“ des Konflikts durch die Repressionsorgane wirksam entgegentreten. Wenn irgendwie geht, sind wir unbedingt dafür, Gerichtsverfahren als Bühne zu nutzen, um mit einer politischen Prozesserklärung und begleitender Pressearbeit klarzustellen, dass soziale und politische Konflikte zur Debatte stehen, diese aber im juristischen System entpolitisiert werden. Auch sollten – möglichst mit anwaltlicher Unterstützung – alle sinnvollen Mittel ausgenutzt werden, um das Verfahren für Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht möglichst kompliziert zu machen oder zumindest die größten Schweinereien zu verhindern. Aussagen zum konkret verhandelten Sachverhalt helfen uns bei alledem jedoch kein bisschen sondern schaden nur, und zwar sowohl bei Polizei und Staatsanwaltschaft als auch vor Gericht.
Was wollen Polizei und Staatsanwaltschaft?
Die Aufgabe von Polizei und Staatsanwaltschaft ist es, zu ermitteln, also Informationen für das Gerichtsverfahren heranzuschaffen. Die Vernehmung zielt deshalb darauf ab, Anknüpfungspunkte für weitere Ermittlungen zu liefern und letztendlich „den Rechtsbrecher“ zu überführen (alle Zitate nach polizeilicher Ausbildungsliteratur). Das ultimative Ziel ist dabei stets das Geständnis, die „Krone des Beweises“ . Auf dem Weg dorthin rechnen Polizei und Staatsanwaltschaft durchaus mit Unwahrheiten oder hartnäckigem Leugnen. Das Verhör wird dementsprechend als „geistiges Judo“ oder als „nervliche Zerreißprobe“ im „Kampf um den psychologischen Bruchpunkt“ betrachtet und geübt. Jede scheinbar noch so entlastende, irreführende oder unsinnige Aussage kann für die Gegenseite brauchbar sein, sei es als Anknüpfungspunkt für weitere Fragen oder zur Begründung eines Anfangsverdachts gegen unsere Freund_innen und Genoss_innen. Für die Repressionsorgane muss es immer Schuldige geben und wir wissen nie, welche Infos sie überhaupt haben wollen. Somit kann jede Aussage eine nützliche Information nicht nur über Personen, sondern auch über unsere Zusammenhänge sein. Wer sagt: „Ich war es nicht!“ belastet andere – denn wenn ich es nicht war, muss es jemand anderes gewesen sein. Der Kreis der Verdächtigen wird in den Augen der Polizei also kleiner. größte Ärgernis für die Vernehmenden ist deshalb, wenn es keine Aussagen gibt. Alle Tricks und Taktiken laufen dann ins Leere. Sie stehen nicht nur ohne Geständnis, sondern ohne jeden Anhaltspunkt für weitere Ermittlungen da. Auch wenn es sich in der Verhörsituation anders anfühlen kann, sind deshalb wir diejenigen, die am längeren Hebel sitzen. Diese Position sollten wir nicht aus der Hand geben: Solange wir konsequent die Aussage verweigern, bekommen sie nicht, was sie von uns wollen.
Was passiert bei Gericht
Vor Gericht prallen im Strafverfahren Welten aufeinander. Die Dämonisierung politischer Aktionen oder die Ausforschung von Zusammenhängen können erwünschte „Nebenziele“ des Staates sein. Im Kern ist die Wahrnehmung der Gegenseite aber geprägt vom Ziel des Strafverfahrens, der Verurteilung. Deshalb geht es dem Gericht in politischen Strafverfahren immer darum, das vorgeworfene Verhalten aus dem Zusammenhang zu lösen und zu entpolitisieren, um es dann nach den Maßstäben des staatlichen Strafrechts zu bewerten und im „Erfolgsfall“ zu bestrafen. Wenn wir in einer gerichtlichen Verneh- mungssituation annehmen, mit einer Aussage etwas bewegen zu können, versteht unser Gegenüber immer nur das, was sich unter irgendeine Norm des Strafgesetzbuches fassen lässt. Jede Aussage wird in eine Maschinerie geraten, deren Mechanismen wir nicht kontrollieren können. Jede Aussage wird, aller darin ausgedrückten politischen Haltung entkleidet, am Ende immer nur nackter juristischer Tatbestand sein. Es ist somit das Wesen des Strafverfahrens, die Angeklagten, aber auch die Zeug_innen zum Objekt staatlichen Handelns zu machen und die verhandelten Konflikte zu enteignen. Die einzige uns zugedachte Handlungsform der Aussage schafft unter diesen Voraussetzungen immer nur die Grundlage für unsere eigene Verobjektivierung, indem sie uns zum Beweismittel gegen uns selbst oder unsere Genoss_innen macht. Wir stehen also vor der Wahl, uns dem Strafverfahren entweder auszuliefern, oder es im Ganzen abzulehnen. Konsequente Aussageverweigerung ist deshalb auch eine Aktionsform. Sie ist im Strafverfahren der radikale, aber auch der einzige Weg, um auszudrücken, dass wir uns nicht zu bloßen Objekten machen lassen. Nur so vermeiden wir es, dem Verfahren durch unsere Teilnahme auch noch den Anstrich irgendeiner Objektivität oder gar Gerechtigkeit zu geben. Nur so kommen wir im Strafverfahren aus der Defensive.
Aussageverweigerung als grundsätzliches Statement
Kaum etwas ist unter Linken umstrittener als die Haltung zum (bürgerlichen) Staat. Klar ist allerdings: Mit diesem Staat, der Menschen illegalisiert und linke Bewegungen drangsaliert und kriminalisiert, ist kein Fortschritt zu haben. Das gilt erst recht im Strafverfahren, wo besonders deutlich wird, dass Staat immer auch Gewalt ist. Ganz klar ist das, wenn eine Freiheitsstrafe, also die umfassende und dauerhafte Unterwerfung unter die staatliche Gewalt droht. Es fängt aber schon früher an: auch die Verhörsituation ist immer eine erzwungene Situation. Für uns ist es deshalb vollkommen abwegig, ausgerechnet innerhalb der zugespitzten Herrschaftssituation eines Verhörs und ausgerechnet mit dem staatlich zugewiesenen Mittel der Aussage fortschrittliche Politik machen zu wollen. Ob konsequente Aussageverweigerung deshalb gleich als ein Ausdruck konsequenter Staatsablehnung zu verstehen ist, kann jede_r mit sich selbst und ihren/seinen Strukturen ausmachen. Außerhalb jeder Diskussion dürfte aber stehen, dass die Verhandlung politischer und sozialer Konflikte in der Form des Strafverfahrens keinerlei emanzipatorische Perspektive bietet. Die Konsequenz daraus kann nur sein, das Verfahren nicht auch noch selbst zu legitimieren und folglich die Aussage umfassend zu verweigern.