Aussageverweigerungsrecht heißt Aussagezwang
Wie können Zeug_innen die Aussage verweigern, ohne Konsequenzen wie Erzwingungsgeld oder sogar Beugehaft zu riskieren? Geht das überhaupt? Einer der Strohhalme für Menschen, die als Zeug_innen geladen sind, scheint auf den ersten Blick der § 55 in der Strafprozessordnung zu sein. Dieser besagt:
„Jeder Zeuge kann die Auskunft auf solche Fragen verweigern, deren Beantwortung ihm selbst oder einem […]
Angehörigen die Gefahr zuziehen würde, wegen einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden.“
Klingt erstmal einfach, birgt aber bei genauerem Hinsehen und dem Blick auf Erfahrungen mit dem § 55 mehr als nur einen Fallstrick. Die Frage, die wir mit diesem Text zumindest von unterschiedlichen Seiten beleuchten wollen, ist die Frage, ob das Berufen auf den § 55 eine sinnvolle taktische Variante im Umgang mit Vernehmungen sein kann.
Eine eher juristische Herangehensweise sagt, dass der § 55 eine pragmatische Möglichkeit sein kann um Beugehaft zu verhindern, wenn es im Vorfeld eine sehr genaue politische und juristische Vorbereitung gibt. Das Berufen auf den § 55 hat tatsächlich auch schon in politischen Verfahren funktioniert. Aber diese Erfahrungen lassen sich nicht verallgemeinern, denn die juristische Entscheidung wird individuell von einzelnen Richter_innen und Staatsanwält_innen getroffen.
Die rein politische Gegenposition heißt, der § 55 ist ein Angebot des Staates und schon deshalb komme nur eine generelle Aussageverweigerung in Frage. Der Kern der Kritik an einem sich Einlassen auf diese Art der Aussageverweigerung ist, dass Zeug_innen in dieser Situation, von dem Wohlwollen der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts abhängig sind. Zeug_innen müssen entweder für ganze Aussagekomplexe oder auch für jede Frage der Vernehmung begründen, warum sie sich mit Aussagen selbst belasten würden und sind dann davon abhängig, ob ihre Begründung anerkannt wird. Im Umkehrschluss bedeutet das Akzeptieren der juristischen Bedingungen schließlich auch das Akzeptieren, nicht Belastendes tatsächlich auszusagen.
Wird die Möglichkeit zu Selbstbelastung durch Richter_in oder Staatsanwält_in verneint, folgt daraus erst Recht der Druck, aussagen zu müssen. Zum einen bedeutet das, dass u. U. schon in diesem Zusammenhang ziemlich viele Informationen preisgegeben werden müssen, die für weitere Ermittlungen, das betreffende Verfahren oder sogar für andere Verfahren relevant für die Ermittlungsbehörden sind. Es werden also Aussagen gemacht werden müssen, um die Aussage verweigern zu können. Eine selbstbestimmte Art der Aussageverweigerung bietet diese Möglichkeit auf keinen Fall.
Zusätzlich ist der/die Betroffene dann schon in einer Situation des Gespräches mit vernehmenden Personen angelangt. In dieser Situation ist kaum noch möglich klar abzuwägen, ob es Sinn macht den Behörden nicht doch eine „kleine“ Information zu geben oder wann der Punkt erreicht ist, doch konsequent die Aussage zu verweigern.
Gerade in Verfahren wegen Vereinigungsdelikten wie § 129, § 129a und b ist der Verfahrensgegenstand quasi unbegrenzt und damit ist unabsehbar, was belastend oder nicht belastend sein könnte. Mögliche Parallelverfahren sind u. U. gar nicht bekannt.
Die Erfahrung mit politischen Prozessen zeigt außerdem, dass der Schritt von Zeug_in zu Beschuldigte_r ein ziemlich kleiner ist. Immer wieder gab es Verfahren, in denen ursprünglich als Zeug_innen Vorgeladene später als Beschuldigte im gleichen Verfahren auftauchten, zum Teil sogar nachdem sie sich auf den § 55 berufen hatten.
Auch im Nachdenken über eine Aussageverweigerung nach § 55 ist es deswegen von grundlegender Bedeutung, so eine Entscheidung gemeinsam mit anderen und kollektiv zu diskutieren. Vor allen Dingen, wenn noch mehr Menschen von Vorladungen betroffen sind.
Mit viel, viel Glück kann das Berufen auf den § 55 also funktionieren. Eine Garantie, dass es funktioniert, gibt es jedoch nicht. Die Entscheidung liegt allein in den Händen staatlicher Behörden; und Aussagen werden so oder so gemacht werden müssen. Sich auf diese Rahmenbedingungen einzulassen, heißt auf jeden Fall eine genaue Vorbereitung und Diskussion mit Genoss_innen und auch der Anwält_in zu haben.
Wir raten vom § 55 aus den oben angeführten Gründen ab. Vor Allem weil auch mit § 55 viel zu viele Informationen preisgegeben werden müssen.
Aussageverweigerung funktioniert nur selbstbestimmt und unabhängig von Angeboten des Staates.